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Der aktuelle Text/Februar 2021

Episoden aus einem Leben mit CMT:

 

„Die Würde des Menschen ist unvorstellbar“

(Deutsche Volksweisheit)

 

Vorgeschichte: Natürlich war das für mich grausam, wenn ich ich in der Schule gelegentlich als „Humpelbeen“ gehänselt wurde. Aber meine schon damals nicht zu verbergende Besonderheit hatte auch Vorteile: Ich durfte im Sportunterricht abseits sitzen und zusehen, wie die anderen sich beim 400-Meter-Lauf, am Reck oder beim Seilklettern anstrengen mussten. Von meiner Muskelerkrankung ahnte damals niemand etwas. Man fand nur, dass ich ungewöhnlich stark „übern Onkel“ laufe. Trotzdem wurde ich später Stellwerksmeister und Fahrdienstleiter, habe außer einer Sportbefreiung nie irgendwelche Erleichterungen in Anspruch genommen. Und bis zu meiner Berentung im Alter von 40 Jahren in verschiedenen leitenden Positionen gearbeitet.

Ist die Würde des Menschen unvorstellbar groß, oder kann man sich einfach nicht vorstellen, dass es sie gibt? Jedenfalls nicht für alle oder zunmindest nicht für alle gleich. Die folgenden Episoden aus meinem Leben werden die Antwort nicht geben, eher neue Fragen provozieren:

Auf dem Leipziger Weihnachtsmarkt wird mir zehn Jahre nach meiner Berentung die Brieftasche mit allen Papieren gestohlen. Ich melde den Verlust u.a. der Führerscheinstelle. Die Mitarbeiterin dort spricht mich völlig unerwartet auf meine Brille an. Was soll das? Ich erkläre trotzdem, dass diese so schwach ist, dass ich sie kaum benötige. Gleich werde ich bestätigt sehen, dass diese Frage nur der Ansatz zum eigentlichen Ansinnen dieser behördlich handelnden Person ist: „Aber Ihren Gehstock, den brauchen Sie doch dringend? Sie bekommen von mir erst einen Führerschein, wenn Sie mir ein Gutachten von einem Arzt, der nicht Ihr behandelnder Arzt ist, zu ihrer Fahrtauglichkeit bringen!“ Da ich an einer neuromuskulären Erkrankung leide, ist dies in meinem Falle ein Neurologe/Psychiater. Ich melde mich in einer Praxis in Magdeburg an, fahre einhundert Kilometer hin und einhundert Kilometer zurück, notgedrungen ohne Führerschein. Ich bekomme das Gutachten. Neben der benötigten Feststellung attestiert man mir: „Mann mittleren Alters, hellwach, allseits orientiert.“

Als ich meinen neu ausgestellten Führerschein mit der Post erhalte kommt mir der Gedanke, dass alles im Leben zwei Seiten hat: „Ich zähle jetzt zu den wenigen Leuten, die eine Bescheinigung haben, dass sie geistig auf der Höhe sind!“

Einige Zeit später: Bitterfeld, Café am Pegelturm. Meine Frau und ich sind viel unterwegs, kehren gern in Cafés ein. Das ist uns möglich, weil meine bessere Häfte materiell etwas bessergestellt ist als ich. Als Ostdeutscher und dazu noch mit einer Behinderung habe ich nie die Gelegenheit gehabt, für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben vorzusorgen. Keine Versicherung hätte mich genommen und mein Verdienst war lächerlich in Hinsicht auf spätere Rentenpunkte.

Es ist mir eben nicht leichtgefallen, das auf alt getrimmte, unebene Pflaster bis zu dem einzigen freien Tisch zu begehen. Immer wieder drohten mir die Sprunggelenke wegzuknicken. Aber gut sieht dieser Untergrund aus, das muss ich zugeben. Geschafft! Wir sitzen kaum, da kommt auch schon eine Kellnerin. Geschäftig drückt sie mit dem rechten Zeigefinger die Bestellung meiner Frau in ihren kleinen Computer. Dann schaut sie zu mir, lächelt verlegen und wendet sich mit den Worten: „Und, was soll ich ihm bringen?“, erneut an meine Frau.

Die tut mir leid in dieser Situation.

Klinikum Bitterfeld, wahrscheinlich habe ich Nierensteine, liege auf Station: Ich soll zur Untersuchung in das Kellergeschoss. Dem Personal erkläre ich, dass ich mit Hilfe meines Gehstocks selbst dorthin laufen möchte. Aber man besteht darauf, dass ich mich in einen Rollstuhl setze. Sofort bin ich einen halben Meter kleiner. Der mich schiebt, ist Hilfspfleger. Das sehe ich an seiner grünen Arbeitskleidung. Ich blicke hinter mich nach oben: Langes Kinn, kräftige Wangenknochen. Mit Leuten, die solch ein Nussknackergesicht haben, verbinden mich unangenehme Erfahrungen. Typ vorzeitig ausgemusterter Sportlehrer oder ehemaliger Unteroffizier. Aber ich lasse mir das nicht anmerken. Bloß keine Vorurteile! Als wir das Kellergeschoss erreicht haben, bringt mich mein „Schieber“ noch bis vor den Untersuchungsraum. Einer der Stühle neben der Tür davor ist besetzt. Ich nehme einen Mittfünfziger wahr, der von seinem Äußeren glatt als Penner durchgehen könnte. Der Hilfspfleger parkt mich direkt daneben und fragt diesen Menschen: „Ist das in Ordnung, wenn ich ihn hier abstelle?“

Als junger Bengel habe ich trotz meiner missratenen Beine einige Griffe Judo und Ringen erlernt, geboxt. Ich wollte mich nie unterkriegen lassen. Eine Versuchung ist plötzlich da: Linker Schwinger, rechter Haken, k.o. Verdient hätte es dieser Holzkopf. Aber das brächte mir im günstigsten Fall einen Eintrag in die Patientenakte ein. Und den würde ich nie wieder los.

Inzwischen bin ich reifer und gelassener, denke ich jedenfalls. Outlet-Center Brehna: Ich liebe solche Einkaufstempel. Man sieht Leute, es gibt gemütliche Cafés und der Boden ist so eben, dass ich mit meinem kleinen faltbaren Elektromobil, welches ich neuerdings von der Krankenkasse habe und das bequem im Kofferraum unseres Autos untergebracht werden kann, flink und beweglich bin. Angeblich reicht die Batterie meines Gefährts für zwanzig Kilometer. Da habe ich jetzt wohl mehr Reserven als meine Frau. Die möchte ausnahmsweise nicht in ein Schuh-Geschäft, sondern in einen Laden mit Regalen übervoll mit Süßigkeiten. Ich kenne meine Versuchungen bei solchen Dingen und bleibe lieber draußen, beobachte das Geschehen durch die Schaufensterscheibe. Es soll ja auch ein erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche geben.

Es dauert länger als erwartet. Meine Frau kann ich angesichts meiner niedrigen Sitzposition und der hohen Regale im Geschäft nicht entdecken. Dafür fällt mir die Verkäuferin an der Kasse auf. Diese zierliche Dunkelhaarige ist mindestens so süß wie das, was sie ihren Kunden einpackt. Jetzt blickt sie sogar für einen Moment durch die Scheibe herüber in meine Richtung! Ich werde an Zeiten erinnert, als ich noch ein richtig toller Hecht war. Die gab es wirklich. Sonst hätte meine Frau mich sicher nicht auserkoren! Hellwach bin ich, als sich mein Blick und der jener Verkäuferin treffen. Aber auch allseits orientiert? Nun, etwas wird ja wohl von meinem einstigen Charme übriggeblieben sein. Selbstbewusst lächle ich. Augenblicke später steht die kleine Schönheit draußen vor dem Ladengeschäft neben mir.  Sie drückt mir eine in durchsichtige Folie eingepackte Maus aus Zuckerschaum in die Hand. Ob sie mir jetzt gleich den Kopf streicheln wird?

Ach, können die Leute lieb und hilfsbereit sein! Bei „Galeria Kaufhof“ am Berliner Alexan-

derplatz will ich meiner Frau nicht in der Handtaschen-Abteilung Gesellschaft leisten. Dank meines fahrbaren Untersatzes habe ich bald die gesamte Etage erkundet und dann kann ich den Blick nicht von ihr wenden: Direkt neben der Rolltreppe wird eine Kaffeemaschine präsentiert. Ich bestaune dieses Wunderwerk der Technik und überlege, ob ich die Ausgabe tätigen soll. Meine Frau und ich sind ja im Durchschnitt nur an drei Nachmittagen pro Woche unterwegs. In meinen Gedanken habe ich schon einen Platz für dieses „Maschinchen“ neben der Fensterbank in der Küche zu Hause gefunden. Doch das verlockende Bild wird jäh zerstört. Eine Frau in noch etwas reiferem Alter als ich spricht mich an: „Ich beobachte Sie schon die ganze Zeit. Sie schauen so sehnsüchtig Richtung Rolltreppe. Soll ich Sie zum Fahrstuhl bringen?“ Oh Scheiße! Wirke ich wirklich so „deppert“?

Während meiner Arbeit mit Behinderten fiel mir auf, dass viele von ihnen bei ihrer Selbstwahrnehmung die eigene äußerliche Besonderheit aus ihrem Erscheinungsbild ausklammern. Bei einem Schreibseminar mit Heranwachsenden fragte ich einen zehnjährigen Rollstuhlfahrer: „Wenn du dich in einer fremden Stadt mit einem Brieffreund verabreden würdest, dem du noch nie begegnet bist, woran sollte dieser Unbekannte dich erkennen?“ Die Antwort: „Na, an meinen schwarzen Haaren!“

Nein, ich will nicht ungerecht sein. Aber manchmal habe ich dann doch zu schlucken: Heute war richtig Stress angesagt. Bis Mittag musste ich einen Beitrag für eine renommierte Literaurzeitschrift überarbeitet haben. Da klingelte es an der Tür. Der Pflegedienst schickte eine Urlaubsvertretung für die Hilfe im Haushalt. Die gute Dame war nicht unhübsch, aber sprach mit dem gleichen kindertümelnden Singsang, wie ihn sich viele langjährige Kindergärtnerinnen oder auch Grundschullehrerinnen zugelegt haben, und sagte: „Sie müssen mir gleich etwas unterschreiben. Meine Chefin hat Sie deswegen angerufen?“ Ich wusste nichts davon und meine Frau bestätigte mir später, dass es keinen solchen Anruf gab. Aber die „Kindergärtnerin“ legte sofort fest: „Na, das bespreche ich dann lieber mit ihrer Frau!“

Selbstverständlich geben wir kein unterschriebenes Schriftstück weg, ohne es vorher kopiert zu haben. Ich hatte wirklich Arbeitsdruck und sagte deshalb, dass ich sofort kopieren werde. Die Haushaltshilfe meinte da anerkennend zu meiner Frau: „Da ist er gleich beschäftigt!“

Ich dachte in mich hinein: „Und du kniest gleich im Bad und polierst meine Kloschüssel!“ Aber im selben Augenblick wurde mir bewusst: „Auch du zählst nicht zu den Gewinnern“, und ich schämte mich. Aber die Umwelt formt den Menschen, da beißt die Maus keinen Faden ab. Schaut doch, was dieses Leben aus ihr aus mir gemacht hat!

Neulich waren die Enkel bei uns. Gemeinsam besuchten wir den Tierpark Dessau. Dem kleineren, der fünf Jahre alt ist, wurde das Laufen zu anstrengend. Auf dem Trittbrett meines Mobils stehend, ließ er sich von mir durch die Anlage fahren. Wir waren schneller als die Fußgänger und konnten in kurzer Zeit viel mehr sehen. Meine Frau und der neunjährige Enkel ruhten sich währenddessen auf einer Bank aus. Aus reinem Übermut steuerten der Kleine und ich das Gehege mit den Nutrias sogar zweimal an. Natürlich gab es auch Besucher, die bei unserem Anblick verunsichert wegschauten. Alles andere wäre nicht normal gewesen.

Inzwischen habe ich die Jahre für die vorzeitige Altersrente wegen Schwerbehinderung erreicht. In meinem Leben hat es niemals Müßiggang gegeben. Als es mit der regulären Arbeit zu Ende war, habe ich mich ehrenamtlich engagiert. Und wie! Ich habe Bücher für Kinder und Erwachsene geschrieben, in Fachzeitschriften veröffentlicht und manchem benachteiligten Menschen Orientierungshilfe in dieser Wirklichkeit gegeben.

Meine monatliche Rente liegt deutlich unter der Armutsgrenze. Trotz der 19.51 Euro, die ich als Altersrentner jetzt mehr erhalte. Natürlich nicht pro Tag, sondern im Monat.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht im Grundgesetz dieses Landes, in dem ich meistens gern lebe, auch weil es mir wahrscheinlich nirgendwo auf dieser zerfallenden Welt im Moment besser gehen würde. Trotzdem wird für mich immer unklarer, was man in dem genannten Gesetz mit Würde meint.

Ich versuche das alles so zu verstehen: Solche Dinge sind das Leben. Für die einen ist dieses so und für die anderen eben anders.

 „Nein, es ist nicht wahr, dass ich nicht glücklich bin“, schrieb einst der in der DDR lebende Dichter Heinz Kahlau und fügte hinzu: „Nur scheint es viele Arten Glück zu geben!“

 

Peter Hoffmann